Rede von Cilli Drexel anlässlich der
ersten Verleihung der RUTH an
KR Arthur Thöni am 19. August 2023
Gregor Bloeb hat mich gebeten, einige Worte über den Begriff Volkstheater zu finden, und was meine Mutter Ruth darunter verstand.
Im Angesicht von dem RUTH ist das natürlich gar nicht so einfach.
Meine Mutter hätte sich niemals selbst als große Volksschauspielerin oder wichtige Figur für ein kritisches modernes Volkstheater bezeichnet. Niemals.
Dafür war sie viel zu bescheiden und zu selbstkritisch. Wenn ich ihr gesagt hätte: „Mama hier steht jetzt eine kleine Statue von dir, die als Preis verliehen werden soll“, dann hätte sie gelacht und abgewunken und das Ganze als übertriebene und ihr eher unangenehme Geste abgetan. (Und vielleicht hätte sie sich auch gefreut, aber das dann unbedingt unter Ausschluss der Öffentlichkeit.)
Meine Mutter war vieles in ihrem Schauspielerinnenleben: Sie war Charakterdarstellerin, Volksschauspielerin, Regisseurin, Theaterintendantin (manche nannten sie Prinzipalin und sie hatten damit nicht unrecht) und natürlich auch Obfrau der Tiroler Volksschauspiele hier in Telfs. Ich finde ja, das sind sehr unterschiedliche Aufgaben, ja Berufe. Manch eine wäre auch mit nur einer dieser Aufgaben ein Leben lang gut beschäftigt gewesen. Aber egal…
Worauf ich hinaus will, ist, dass sie in ihrer Theaterlaufbahn stets versucht hat, Volkstheater anders zu denken.
Auf der einen Seite: Kein Komödienstadel für Touristen!
Auf der anderen Seite: Kein elitäres Kunstgehabe – kein Theater im Elfenbeinturm.
Wichtig am Theaterbegriff meiner Eltern (ich nenne hier auch den Brenner Hansl, denn die beiden waren ja in Liebe und Arbeit ein Paar) war das Niedrigschwellige: Es sollte ein Theater sein das für alle offen ist. Ein Theater, das nicht nur für eine Bildungselite verständlich ist, einem bestimmten Kunstverständnis huldigt, das Form über den Inhalt stellt und ästhetische Preziosen hervorbringt. Ihr Theater sollten nicht nur Eingeweihte verstehen, sondern jeder. Alle. Die Jungen, die Alten, die sozial Schwächeren, die Abgehängten, die in der Stadt, die vom Land, die Gebildeten, die Ungebildeten, die Neugierigen, die Traditionalisten – die haben sich oft mal ärgern müssen. Ihr Volkstheater war streitbar und politisch unangepasst. Nie volkstümelnd, aber nah an den Leuten, das schon.
Ihr Interesse galt den sogenannten kleinen Leuten, den Unterdrückten, den Außenseitern und all denjenigen, die nur selten Protagonisten auf der Bühne waren. Es waren die Dramen des Alltäglichen, die sie interessierten.
Für meine Mutter, die eine eingefleischte Linke war, war es Teil der Aufgabe, sich gesellschaftlich zu positionieren, Haltung zu zeigen, wehrhaft zu sein, immer wieder aktuelle Themen auf die Bühne bringen.
So geschehen 1969 in Berlin: Viet Nam Diskurs, ein Stück (*von Peter Weiss, Anm. TVS), wo sie und der Hansl und das übrige Ensemble auf offener Bühne Geld gesammelt haben für den Vietcong und dann von der Polizei abgeführt wurden.
Das war für sie eben auch Volkstheater – und zwar Volkstheater für das Vietnamesische Volk. Ärger, Konflikte, Kontroverse! Das kennen wir hier in Telfs. Das ist der Gründungsmythos. So sind die Volksschauspiele nach Telfs gekommen. Stoffe, die gesellschaftliche Konflikte abbilden, Stoffe, die Diskussionen oder Widerstand auslösen, herzeigen!
So geschehen an den Kammerspielen in München im April 1971:
„Heimarbeit“ von einem Autor namens Franz Xaver Kroetz.
Jetzt zitiere ich aus den Memoiren von Walter Schmidinger, einem großen Schauspieler, der damals mit der Ruth zusammen in der Uraufführung gespielt hat:
„Schon vor der Premiere gab es irrsinnige Demonstrationen, weil das Kulturreferat der Stadt München mit allen Mitteln versucht hatte, dieses Stück zu verhindern. Nicht nur wegen einer Onanie-Szene, sondern auch weil Ruth Drexel, mit dem Rücken zum Publikum einen Abtreibungsversuch mit einer Stricknadel an sich vornahm. Nach diesem fehlgeschlagenen Abtreibungsversuch kommt ein behindertes Kind zur Welt. Dieses Kind, das Tag und Nacht schreit, taucht ihr Mann in der Badewanne unter.
Die Premiere war insofern enervierend, als schon vor Beginn der Vorstellung Stimmung gemacht wurde: ‚Schmidinger, die Pornosau, onaniert wie Kohlenklau‘, ‚Pornohexe Drexel, raus aus München!‘ schrie ein Chor vor der Werkraumbühne.
Irgendwelche Leute hatten Jauchefässer im Foyer ausgekippt, um zu verhindern, dass die Menschen hineingehen. Es war ungeheuer turbulent, alle waren nervös, Kroetz soff sich einen an. Wir spielten drei, vier Szenen. Plötzlich gingen die Türen links und rechts auf der Bühne und im Zuschauerraum auf. Die Polizei trat ein.
Ich wurde angewiesen zu sagen: ‚Entschuldigen Sie, die Vorstellung muss unterbrochen werden, es ist ein Bombenattentat angesagt worden. Die Mutter von Ruth Drexel kriegte einen Schreikrampf, das Publikum kreischte. Die Polizei musste mit Suchgeräten den ganzen Zuschauerraum abgehen. Anschließend spielten wir weiter. Nach fünf Bildern kamen zwei Polizisten herein und sagten: ‚Verzeihung, wir haben die Requisiten noch net untersuacht.‘ ‚Ja bitte, meine Herren, machen Sie.‘ Es war eine unbeschreibliche Premiere.“
1969: „Jagdszenen aus Niederbayern “ Martin Sperr schildert darin die Geschichte eines Dorfes, das sich zu einer Hetzjagd auf einen jungen schwulen Mechaniker hinreißen lässt. Es war eines der ersten Stücke, das sich ernsthaft mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte und mit den daraus resultierenden Verwerfungen in einer bigotten Dorfgemeinschaft.
Kroetz, Sperr, Fassbinder und später dann Mitterer: das waren die zeitgenössischen Autoren, die neue kritische Volksstücke schrieben. Aber auch Brecht, Horvath, Goethe und der ehrenwerte Shakespeare – im Verständnis meiner Mutter war Volkstheater kein Genre, sondern eine Lesart, eine Art der Betrachtung. Deshalb konnten auch bürgerliche Klassiker zu Volkstheater werden.
Heute gibt es die Tendenz, dass Menschen mit unterschiedlicher Meinung nichts mehr miteinander zu tun haben wollen. Begegnet wird sich digital. Menschen sprechen übereinander, nicht miteinander. Theater findet meistens unter Gleichgesinnten statt.
Die Ruth und der Hansl haben aber genau das Gegenteil gewollt und versucht. Sie haben mit denen geredet, die ausweislich anderer Meinung waren, sie haben auch für die Theater gemacht! Sie haben sich den Konflikten gestellt, es wurde heftig gestritten, heftig getrunken, und auch heftig gefeiert. Das fand natürlich beispielhaft in Telfs statt.
Hier kam das Volk nicht ins Theater, sondern das Theater kam zum Volk.
In Telfs wurde Theater nicht für die Telfer:innen gemacht, sondern mit ihnen. Das war auch eine Idee dieses Volkstheaters: Profis spielen zusammen mit Laien. Gemeinschaftliches Arbeiten. Voneinander lernen.
In Telfs wurde nicht ein Festspielhaus bespielt, sondern der Ort Telfs selber wurde zum Protagonisten: die Munde, der unvergessene Zobl-Anger, der Pilatushof, die Rathaus-Ruine, eine aufgelassene Supermarkt-Filiale, der Rathausplatz. Ui! Die Anwohner tobten, nicht immer nur vor Begeisterung. Sie tobten auch ein ums andere Mal, weil sie nicht ihre geliebte Ruhe hatten. Sondern eben lärmendes, lebendiges Theater!
Und heute wird also zum ersten Mal der RUTH verliehen. Ein Preis, der den Namen dieser Theaterfrau trägt. Und wenn man ihn so anschaut, auch ihre äußere Anmutung hat. Für mich verknüpft sich damit der Wunsch, dass dieser Geist des Theatermachens: mit den Leuten für die Leute – hingehen, wo´s weh tut und nicht kneifen, wenn´s greislich wird, dass dieser Geist bestehen bleibt. Ein Theater der Begegnung, des Austauschs, ein Theater, das berührt, das verstanden werden will, ohne gefällig zu sein. Eine Feier des Lebens, mit allem was dazugehört. Danke vielmals.